Landwehren im Kreis Steinfurt

Von Dr. Christof Spannhoff

Vor 700 Jahren, im Jahr 1321, befahl der münsterische Bischof Ludwig von Hessen (1282/83–1357, seit 1310 im Amt) die Errichtung von Landwehren in den Kirchspielen Roxel, Albachten, Bösensell, Gievenbeck und Mecklenbeck. Dafür sollte den Bauern das „Hergewede“, also die Sterbeabgabe an den Grundherrn, erlassen werden. Zudem wurden die Bewohner der besagten Kirchspiele aus der Gerichtsbarkeit des Gogerichtes Bakenfeld gelöst und konnten ihr Recht nun vor dem örtlichen Bauerrichter suchen, sodass eine Teilnahme an den Gerichtstagen auf dem Bakenfeld bei Gievenbeck unnötig wurde. Im lateinischen Text der darüber ausgestellten Urkunde ist von „municio, que lantwere vulgariter appelatur“, die Rede, also von einer „Befestigung, die im Volksmund Landwehr genannt wird“. Diese Erwähnung ist einer der ersten schriftlichen Hinweise auf derartige Einrichtungen im Münsterland. Auch auf dem Gebiet des heutigen Kreises Steinfurt wurden solche Landwehren angelegt. Aber was ist eigentlich genau eine Landwehr?

Der bereits frühmittelalterliche Begriff „landweri“ bezeichnete ursprünglich die Gesamtheit der zur Landesverteidigung aufgebotenen Männer. Spätestens im Hochmittelalter hatte sich seine Bedeutung allerdings erweitert. Der Ausdruck „Landwehr“ charakterisierte nun, neben der Landesverteidigung, eine Befestigungs- und Wehranlage. Eine Landwehr war ein lineares Befestigungssystem aus Wall und Graben, das in seiner Schutzwirkung durch das Aufpflanzen einer Hecke – dem sogenannten „Gebück“ – verstärkt wurde. Die Anzahl der nebeneinander liegenden Wälle und Gräben sowie deren Höhe bzw. Tiefe und Breite waren nicht festgelegt, sondern variierten von Fall zu Fall. So konnten Ein-, Zwei-, Drei- und sogar Vierwallanlagen vorkommen. Durch intensive Pflege, die im Heckenschnitt und Verflechten der jungen Triebe bestand, wurde der Strauchbewuchs derart verdichtet, dass mit der Zeit eine undurchdringliche natürliche Mauer entstand. Im Gegensatz zu den Mauern der Städte schützten Landwehren den ländlichen Raum, also Höfe und Bauerschaften, Kirchdörfer und Kirchspiele, aber auch die städtische Feldmark außerhalb der urbanen Ummauerung. Besonders gefährdet waren in diesem System die durch Straßen und Wege bedingten Durchgänge. In Friedenszeiten genügte zu ihrer Sperrung ein Schlagbaum, der oft von einem den Schließdienst versehenden Wachmann beaufsichtigt wurde. Dieser Aufseher wohnte häufig in der unmittelbaren Umgebung. Viele Hof- und Familiennamen mit dem Grundwort -bäumer oder -schlüter haben sich aus dieser Aufseher-Funktion entwickelt. In unruhigen Zeiten konnten die Durchgänge in der Landwehr auch „vergraben“, also gänzlich unzugänglich gemacht werden. Die defensive Funktion der Landwehren ist nur zu verstehen, wenn man sich die Art und Weise der mittelalterlichen Kriegsführung vor Augen führt. Die häufigste Form gewaltsamer Auseinandersetzung im Mittelalter war die Fehde. Ihre Durchführung bestand praktisch darin, dass der Besitz des Befehdeten durch Überfall und Zerstörung bedroht war: Felder und Gebäude konnten ein Raub der Flammen und das Vieh weggetrieben werden. Genau dieser Form der gewaltsamen Konfliktaustragung konnte allerdings ein System von Landwehren effektiv begegnen. Aufgrund der wenigen Durchlässe in der Landwehr wurden die Einfälle der Feinde kanalisiert. In der Nähe wohnende Aufseher sichteten sie bereits früh beim Passieren des Schlagbaumes und die Bevölkerung konnte so durch den „Glockenschlag“, d.h. durch das Läuten der Kirchen- oder Bauerschaftsglocken, zur Verteidigung aufgeboten werden. Während die Angreifer das Vieh zusammentrieben, dessen Mitnahme durch die engen Landwehröffnungen sehr erschwert wurde, gelang es der Bevölkerung, sich am Durchgang der Landwehr zu sammeln, um die Übeltäter dort abzufangen. Die Notwendigkeit zur Errichtung solcher Landwehren, besonders im 14. Jahrhundert, wird auch am Beispiel des Grafen Nikolaus von Tecklenburg-Schwerin (nach 1312–1367) deutlich, der allein im Jahr 1360 mit seinen Raubzügen im Münsterland 1114 Kühe, 3838 Schafe, 143 Pferde und 480 Schweine erbeutet haben soll. Wie wirkungsvoll Landwehr und Schlagbaum waren, zeigt folgender Fall: Während der Schlacht bei Varlar im Zuge der Münsterischen Stiftsfehde am 18. Juli 1454 wurde eine der sich bekämpfenden Parteien hinter die Landwehr bei Bösensell zurückgedrängt, bei der sie Stellung bezogen hatte. Es ist überliefert, dass bei diesem ungeordneten Rückzug zahlreiche Männer in den Gräben der Landwehr ertranken.

Die Anfänge der näheren Erforschung der Landwehren liegen bereits im 19. Jahrhundert. Für eine Beschäftigung mit den Landwehren Westfalens sind aber besonders die Forschungen von Karl Weerth (1881–1960) aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen, die zum Teil schon auf Untersuchungen seines Vaters Otto (1849–1930) beruhen. Karl Weerths Kartierung der erhaltenen und durch den Urkataster zu erschließenden Landwehrzüge ergab, dass die Landwehren sich häufig entlang der Kirchspielgrenzen erstreckten, jedoch teilweise auch von diesen abwichen und unbesiedelte sowie unkultivierte Gebiete aussparten, wie etwa die Markengebiete. Natürliche Gegebenheiten, also Moore, Flüsse und Bäche, wurden in den Verlauf der Landwehren mit einbezogen. Dieses, fast das gesamte Münsterland durchziehende Verteidigungs- und Schutzsystem, geht vermutlich auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zurück. Im Zuge der damaligen Landfriedensbewegung, der gesetzlichen Vorbeugung seitens des Landesherrn zum Schutz des öffentlichen Friedens durch Verbot und Einschränkung von Fehden sowie anderer gewaltsamer Selbsthilfe, wurden zahlreiche Landwehren angelegt, wie auch das eingangs genannte Beispiel zeigt.

Reste und Spuren dieser mittelalterlichen Verteidigungsanlagen finden sich auf Steinfurter Kreisgebiet noch sehr zahlreich. Nicht nur in etlichen Flur- oder Hofnamen, sondern auch im Gelände selbst haben Wälle und Gräben teilweise überdauert. Besonders gut erhalten ist die Anlage westlich von Altenberge und Nordwalde, die sich gegen die Herrschaft Steinfurt richtete. Ein weiterer Abschnitt dieser Landwehr, die von drei Wällen auf zwei übergeht, ist auf Metelener Gebiet beim Hof Gauxmann überliefert. Innerhalb der früheren Edelherrschaft und späteren Grafschaft Steinfurt finden sich Überreste in Hollich und Veltrup von Landwehren, die als Kirchspielslandwehren anzusehen sind. Erhaltene Landwehrzüge lassen sich ferner in Reckenfeld und Greven lokalisieren. Die dortige Bakenlandwehr, die nördlich des Ortes verlief, soll ein hohes Alter gehabt haben und auf die Zeit um 1300 zurückgehen.

Im östlichen Teil des heutigen Kreisgebietes gab es Landwehren in Wersen (erwähnt 1363), Westerkappeln (erwähnt 1351) – ein kleiner Rest ist auf dem Gabelin zu erblicken – und Lienen (erwähnt 1447), die die Grenze zwischen der Grafschaft Tecklenburg und dem Fürstbistum Osnabrück markierten. In Lienen-Kattenvenne lassen sich noch im Urkataster von 1828/29 Anlagen nachweisen, die sich ursprünglich gegen das Fürstbistum Münster gerichtet haben dürften. Flur- und Hofnamen zeigen zudem, dass hier natürlich auch innerterritoriale Befestigungen bestanden. So lassen sich für Lienen-Aldrup 1502 und Lengerich schon 1311 Belege verzeichnen.

Immer wieder wird behauptet, dass die Landwehren mit dem Aufkommen der Feuerwaffen ihre strategische Funktion verloren hätten. Diese Entwicklung steht allerdings kaum in einem Zusammenhang. Denn unabhängig von der Bewaffnung boten die Landwehren Schutz vor Raub und Plünderungen. Erst die stehenden Heere im 18. Jahrhundert führten zum Niedergang der Befestigungsanlagen. Und die Markenteilungen, Privatisierungen, Verkopplungen, Meliorationen und weiteren Umstrukturierungsprozesse der Landwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert ließen dann auch die baulichen Spuren bis auf ein paar Reste endgültig verschwinden.